Die Geschichte meiner „Rocksozialisation“ ist eine wahrscheinlich typische Ostgeschichte, wie sie zu tausenden passierte und die dabei doch in jedem Fall individuell geprägt blieb. Wir nahmen Rockmusik auch dann noch ernst, als sie in den Achtzigern langsam zur bloßen Unterhaltung verkam. Für viele von uns war das rebellische Element dringend notwendig – und es funktionierte.
Ganz konkret begann meine Sozialisation mit der Ablehnung von Smokie, ich hatte zwar keine Ahnung, aber ich fand das doof. Diese Welle ging dann zum Glück auch schnell wieder vorbei, der nächste Schritt war, als ich meinen Eltern zu deren Entsetzen die (eigenes Zitat) „melodiösen“ Songs von AC/DC präsentierte. Sie sahen das ein wenig anders, aber so funktionierte Rock eben.
Damals fiel aber auch jener furchtbare Satz, der mir jahrelang unterschwellig Angst einflößte: „Komm du erstmal in unser Alter“ Ich sah mich mit dreißig zum Schlagerfreund verkommen und noch an meinem dreißigsten Geburtstag verspürte ich einen gewisse Erleichterung, als feststand, dass ich diesem Schicksal entkommen würde. Ich geriet aber auch nie zum großen Fan der Band, interessanter fand ich damals Pink Floyd, von denen ich die vierte Seite des „The Wall“Albums damals bei „Duett, Musik für den Rekorder“ aufnahm, eine der wenigen Möglichkeiten, die nicht zu bekommenden Platten vollständig auf Kassette zu bekommen. Na gut, das war ein Ausprobieren, eher ziellos, Pink Floyd teilte sich die Kassette beispielsweise mit den BeeGees. Der Erste, mit dem ich mich wirklich näher befasste, war Rod Stewart, die Enttäuschung darüber, dass das Album „Atlantic Crossing“ (gab es nämlich als Lizenz auch in der DDR) nicht so klang, wie ich mir eine Platte voller „Sailing“ vorstellte, schluckte ich ganz tapfer weg. Es kam ein bisschen RIAS über Kurzwelle dazu und heftige Familiendebatten über Udo Lindenberg, den ich damals natürlich ganz toll fand. Nun ja, das war allerdings auch seine beste Zeit, wie wir heute wissen.
Wirklich interessant wurde es allerdings erst, als ich in den Einflussbereich des Hessischen Rundfunks geriet, natürlich ein Straßenfeger wie Werner Reinke, ganz besonders aber Volker Rebell, ein Moderator und Musikjournalist, den ich noch heute sehr schätze und dessen Sendungen nach wie vor von einer mittlerweile außergewöhnlichen Kompetenz zeugen. Das war die Zeit, als Jugendliche mit Kassettenrecordern herumsaßen, bei uns waren das ein paar Bänke, im Sommer ein Baggersee. Damals kam es zu der amüsanten Situation, dass ich bereits Musik mitbrachte, von der andere Jugendliche wollten, ich solle den „Krach“ ausmachen. Alle wollten NDW, ich hatte Nina Hagen („Iki Maska“) und – Ton Steine Scherben. Das wusste ich allerdings nicht, das war so ein Lied, „Wir müssen hier raus!“ das mich ansprach, obwohl es nur wenig mit meiner Lebenssituation zu tun hatte.
Ton Steine Scherben war für einen DDR-Jugendlichen, der in die sehr spezielle Hippieszene („Blueser“) geriet, eine Art Fetisch, der Inbegriff für Rebellion und Aufstand. Wer eine Kassette besaß, die von einer Kassette überspielt wurde, die von einer Kassette überspielt wurde, auf der irgendwo im Hintergrund hinter viel Rauschen mit viel Phantasie die Stimme von Rio Reiser zu ahnen war, besaß einen Schatz, einen echten! Jede Dorfkapelle, sei auch noch so schlecht, hatte gewonnen, wenn sie nur einen Scherbensong nachspielen konnte. Und noch Jahre später, als ich bei einem Auftritt Rio Reisers endlich all die ersehnten echten wahren Scherben-Platten vor mir liegen hatte, war ich eigentlich nur eines – ein zitterndes Bündel purer Gier!
Nun gut, ich will nicht alles ins Detail auswalzen (obwohl es Spaß macht) es kamen Erfahrungen mit Punkrock, die Ärzte mochte ich zunächst nur sehr widerwillig („darf ich das denn als Blueser?“)
und so weiter.
Dann aber kam Henry. Und Henry wurde mein Lehrer. Er hatte Westbeziehungen und eine traumhafte Plattensammlung. Um sich Henry vorzustellen, muss man sich nur ausmalen, wie wohl der größte Stonesfan einer mittelgroßen Stadt aussieht, das ist Henry. Noch heute, mittlerweile sich der Sechzig annähernd, ward er wohl nicht ohne Stones-Shirt gesehen. Das hinterließ Spuren, ich liebe die Stones bis heute und es ist jedes Mal, wenn ich die längere Zeit mal nicht gehört habe, ein Erlebnis, zu hören, wie gut die zwischen '67 und '72 waren. Was für die Rockmusik in der DDR im Allgemeinen galt, galt für die Stones im Besonderen, das war pure Rebellion. Ein Stonesfan war „dagegen“ gegen das System, gegen die Spießbürger.
Durch Henry lernte ich aber auch Musik kennen und schätzen, die ich mir bis dahin nicht vorstellen konnte. The Velvet Underground, eine kleine Offenbarung und schließlich eine für mich höchst seltsame Musik. (War das überhaupt Musik?)
Auf einer Party hatte jemand die „Phallus Dei“ von Amon Düül 2 laufen, man fand es toll, ich war ratlos. Das blieb nicht lange, wer durch Henrys „Schule“ ging, blieb nicht ratlos zurück und ich war Henrys gelehrigster Schüler.